Generelle Kultur des Misstrauens
Anhand der nun folgenden Sequenzen des Films lässt sich eine weitere Vignette der Theorie Baumans illustrieren: die generelle “Kultur des Misstrauens”, die Flüchtlingen, sozial Schwachen und anderen “unerwünschten Individuen” entgegen gebracht wird. Für Bauman erfüllen die ausgegrenzten Individuen in der Moderne die Funktion eines Sündenbocks. Anstatt auf die wirklichen Probleme der Globalisierung zu reagieren, die Bauman vor allem in dem Verhalten transnationaler Konzerne sieht, ist es “viel opportuner und zweckmäßiger, den Staatsfeind Nummer eins unter den unglücklichen Bewohnern der banlieus und der Asylbewerberlager auszumachen” (Bauman 2005, 91). In diesem Kontext spricht Bauman von einem neuen “Big Brother”, der die gesellschaftlich unerwünschten Individuen überwachen soll. Im Gegensatz zum klassischen Big Brother im orwellschen Sinn besteht seine Funktion jedoch nicht darin, die Inklusion von Individuen in eine Gesellschaft zu gewährleisten, sondern darin, den Ausschluss unerwünschter Individuen auf Dauer zu sichern (vgl. Bauman 2005, 187 – 189).
Eine Form dieses neuen Big Brothers lernt der mittlerweile nach Deutschland geschmuggelte Sohn Nishas in Form des Grenzschutzes kennen.
Inhalt der Sequenz
Eine Kamerafahrt durch das Büro des Grenzschutzes endet an dem Tisch eines Beamten, der sich gerade damit beschäftigt, Nishas Sohn die gewünschten Antworten zu entlocken. Dabei diktiert er seinen Bericht und kommt aufgrund der Tatsache, dass dieser seine Fragen nicht beantworten kann, zu dem Schluss, er stelle “eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland” dar. Während er die Worte spricht, wird in einer Halbnahen auf Nishas Sohn geschnitten. Im Folgenden ordnet er die Verweigerung der Einreise an, worauf der als Vertreter des Jugendamts fungierende Anwalt Einspruch erhebt, welcher abgelehnt wird. Die Tür öffnet sich, wodurch der Junge einen Blick auf ebenfalls draußen sitzende Inderinnen bekommt, die ihm “Asyl” zuraunen. Er spricht das Wort nach. Der Beamte fragt daraufhin nach seinem Vornamen und Nachnahmen. Der Junge wiederholt mangels Sprachkenntnis die Worte seines Nebenmannes, woraufhin der Anwalt einen Übersetzer fordert.
Die Sequenz zeigt zweierlei Facetten der Theorie Baumans. Einerseits wird der Nationalstaat als eine Form inkorporierter Ordnung inszeniert, die sich darin zeigt, dass der Beamte, der ihn repräsentiert, bei der Bearbeitung seines Falls unabhängig vom Klienten einen vorgegebenen Ablaufplan durchgeht und bei seinem Bericht fortlaufend die Paragraphen benennt, die sein Handeln rechtfertigen.
Dass er einen kleinen Jungen als Sicherheitsrisiko einschätzt, verleiht der Sequenz eine gewisse Komik, verweist andererseits aber auf die oben angesprochene generelle “Kultur des Misstrauens”, von der Bauman spricht. Nishas Sohn muss sich, genau wie die anderen Asylbewerber erst einmal als vertrauenswürdig erweisen und steht, bevor dies geschehen ist, unter dem Generalverdacht, ein Sicherheitsrisiko zu sein – Misstrauen steht vor der Unschuldsvermutung. Am Flughaufen sitzen der alte Big Brother und der neue “in den Paßkontrollstellen […] Seite an Seite. Der einzige Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß der neue äußerst penibel die Ausweise der Einreisenden prüft, während der alte die Dokumente der Ausreisenden (eher oberflächlich) prüft” (Bauman 2005, 188). Im Falle fehlender Ausweise müssen sich Einreisende wie Nishas Sohn einer genauen Prüfung unterziehen. Dass in dieser Prüfung die Frage nach dem Namen des Jungen ganz am Ende steht, ist bezeichnend und kann als Beleg für Baumans Thesen gesehen werden. Menschen, die Asyl beantragen, sind in der Baumanschen Terminologie dem “menschlichen Abfall” der Moderne zuzuordnen. Als solcher bedürfen sie “keiner feinen Unterschiede und subtilen Nuancen” (Bauman 2005,111), wie sie ein Name machen würde.
- Zum Film Tor zum Himmel